Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mo 09. Juli 2012
Seite 28
Feuilleton | Gerrit Komrij, der Vaderlands-Dichter, ist gestorben
Briefträger der Poesie
„Nimm mir die Poesie, und ich bin ein Postzusteller, ein Mann ohne Zauberstab.“ Diese Zeilen des Niederländers Gerrit Komrij charakterisieren den Dichter als Abhängigen, als Berauschten von der Droge der Wörter und ihrer Magie. Zeitlebens erfüllt von Lyrik, blieb Komrij, geboren vor 68 Jahren in Winterswijk an der deutschen Grenze, immer auch ein Postbote. Er brachte nämlich die Botschaft der Poesie unters Volk, indem er seit den siebziger Jahren immer neue und stets originelle Anthologien niederländischer Dichtung herausgab. Seine klassische Blumenlese gibt es derzeit in der vierzehnten, aktualisierten Ausgabe und gilt längst als „Bibel der niederländischen Poesie.“
Eigene Gedichte hatte Komrij schon als Mittelschüler verfasst; sein echtes Debüt datierte er mit seinem ersten Band, der 1968 erschien. Da lebte der junge Wilde bereits im Amsterdam der Hausbesetzer, Drogendealer und Hippies und machte sich als Kritiker, namentlich des noch ungewohnten Mediums Fernsehen, einen Namen – und genüsslich zahlreiche Feinde. Komrij badete als „Polemist“ und eine Generation jünger und frecher als Kollegen wie Harry Mulisch im literarischen Biotop Amsterdams, verfasste auch Romane und Theaterstücke.
Doch zuvörderst dichtete er und ließ nebenbei seine Landsleute die halb vergessenen Verse des Mittelalters, des „Goldenen Zeitalters“ im siebzehnten Jahrhundert oder des vernachlässigten Rokoko wieder entdecken – mit Lyrikzeitschriften, Poesie Buchhandlungen, Gedicht-Clubs und später auch übers Internet. Der Ehrentitel „Dichter des Vaderlands“ wurde 2000 eigens für Komrij – der das Amt 2004 abtrat – geschaffen. Da lebte der vielfach Bekrönte bereits meist mit seinem Lebensgefährten auf dem Land in Portugal und machte sich aus der Distanz und wortmächtig über die saturierten Achtundsechziger, über die kostümierten Schwulenparaden, über manche Dichterkollegen und Politiker lustig. Den heiligen Ernst der Modernen und deren Purismus hatte Komrij ohnehin stets verabscheut. Er hatte sich lieber – und darin seinem deutschen Kollegen Robert Gernhardt verwandt – mit Reim und Wortwitz, Sprachspielen und Gelehrsamkeit auf seinem eigenen, höheren Niveau amüsiert.
„Ich will“, schrieb er, „nicht seriös sein, aber ich will ernst genommen werden.“
Nachdem Komrij nun in einem Amsterdamer Krankenhaus gestorben ist, kondoliert nicht allein Königin Beatrix bei den Anverwandten; die Kritik vergleicht Komrijs „vitalen Pessimismus“ und seinen klassizistischen Formwillen mit Heinrich Heine; Kollegen verfassen Abschiedsgedichte, und Leser greifen wieder zur gültigen Anthologie ihrer Dichtung. Den Niederlanden wird dieser geniale Briefträger der Poesie fehlen.
DIRK SCHÜMER
Bildunterschrift:
Ein vitaler Pessimist, der fehlen wird: Gerrit Komrij
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