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Gerrit Komrij
Fröhliche Bespiegelungen über den Zeitgeist

Gerrit Komrij | 1944 – 2012
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Gerrit Komrij
Ein guter Test für die wahre Liebe sei, sagte einst Barbellion oder jemand dergleichen, ob du den Gedanken, die Fußnägel des Geliebten zu schneiden, ertragen könntest. Das ist in der Tat ein zitables Bild. Fußnägel symbolisieren in einer weniger verklemmten Zeit den Abfall dem man sich ohne Ekel stellen muss, wie Schweiß oder Exkremente. Zudem sieht man es als Kniefall, der Geliebten in dienstwilliger Haltung zu Füßen zu liegen. Man wäre gleichsam nicht mehr, als die Nagelschere eines gottgeweihten Fußes. Jemandem die Fußnägel zu schneiden hieße, ihm mit einer Waffe, wie winzig auch immer, zu Leibe zu rücken.
Wenn Sexualität Krieg ist, ist Liebe Frieden mit rauchendem Geschütz. Zu mehr als Waffenruhe ist der Mensch ohnehin nicht in der Lage. Er bleibt er selbst und tritt gleichzeitig aus sich heraus. Er bleibt er, da er, auch wenn er einen Friedensvertrag schließt, seine kriegssüchtige, blutgierige Art nicht leugnen kann. Aus sich heraus tritt er, beschwört er doch, jenen Vertrag für ewig abgeschlossen zu haben. Unzertrennlich ist die Liebe mit großen Worten wie Hingabe, Frieden, Ewigkeit verbunden. Und doch gibt es keinen Bereich, wo die Diminutive so im Schwung sind – Liebchen, Küsschen, Dellchen. Fußnägelchen.
Auch lässt sich die Liebe, obschon als so himmlisch angesehen, mit Wohlgefallen in irdische Begriffe fassen. Wir können der Geliebten die Worte von ihren honigsüßen Lippen trinken, wir können ihre Rundungen anbeten, wir können uns paradiesisch in ihre göttliche Umarmung niederlassen, die Sterne vom Himmel pflücken, die goldenen Funken in ihrer Iris zählen, aber auch einfach ihre Fußnägel schneiden. Die niedere Gebärde besudelt nicht, nein, sie erhöht eher den Glanz unserer Liebe. Denn – ein Paradox mehr – wir gehen erst mit Liebe schwanger wenn wir uns selbst völlig verloren haben. Wen wir lieben – dieser Andere – er hat Besitz von uns ergriffen. Wir schauen durch die Augen des Anderen, fühlen mit den Händen des Anderen, leben im Körper des Anderen. Wir schneiden unsere Fußnägel selbst.
Es herrscht ein dröhnender Frieden. Wehrlos sind wir unserem eigenen Sperrfeuer ausgesetzt. Und indem wir uns selbst verloren haben – wo enden bloß die ganzen Widersprüche? – sind wir im vollsten Besitz aller unserer Fähigkeiten. Die Verse sprudeln vollkommener aus unserer Feder, die Körperbewegungen sind runder und lauterer, wir tun stets das Richtige. Es kommt uns kein buckliger Zwerg in die Quere und keine Dissonanz kriecht uns ins Ohr, unser Sinn für Humor und die Absurditäten der Existenz hat den höchsten Grad an Verfeinerung erreicht, und alles was wir an Güte besitzen, strahlt uns von der Stirn, sogar die Güte, die wir nicht besitzen.
Wir wären, würde es uns angerechnet, unerträglich, beate Idioten. Aber es kann uns nicht angerechnet werden. Wir sind ein Anderer. Wir sind glückselig ohne Gewähr.
Wir sind verliebt.
Wie lange dauert dieser Zustand an? Für viele vielleicht nicht länger als ein Fußnagel braucht um wieder nachzuwachsen. Für mich ist es der Zustand, indem ich fast unaufhörlich verkehre. Ich bin verliebt in die Liebe. Es bewirkt, dass ich morgens beim Aufwachen dem Tag nicht voller Abscheu entgegensehe. Es bewirkt, dass ich mir tagsüber selber komplimentös zunicken kann, ohne jede Form von Eitelkeit. Es bewirkt, dass ich abends ohne Angst und Pein einschlafe.
Oh weh, wenn die Liebe mich eines Tages im Stich lässt. Ein einsamer Asteroid wäre ich dann, einer Nagelschere gleich, schwebend zwischen Hämisphären, verwirrt auf der Suche nach ihrem geliebten Zeh.